3. Ausgabe
Geleitwort
Nach längerer Pause erscheint nun wieder eine Ausgabe. Dieses Mal ist ein bunter Strauß von „Prosastücken“ zusammengekommen. Doch wie immer ist das Bindeglied die gelungene sprachliche Form.
Zu den Texten im Einzelnen: Stefanie Golisch gerät ihr Bericht über Benjamin, den letzten australischen Beutelwolf, zur tiefsinnigen Fabel; Markus Gottschall begibt sich mit seinen Figuren auf die Suche nach einem magischen Kindheitsort; „blume“ erzählt eine Schöpfungsgeschichte en miniature, die irgendwo zwischen theologischer und naturwissenschaftlicher Weltdeutung angesiedelt scheint; Susanne Mathies ironisiert – vermutlich – das, was die Medien den „Selbstoptimierungswahn“ nennen, und Werner Preuß spürt den Empfindungen eines Langstreckenläufers nach. Darüber hinaus enthält die Ausgabe zwei Beiträge, die sich mit gewissem Recht als „Lyrikstücke“ bezeichnen ließen: Armin L. Fischer spielt in seinem herrlich dadaistischen Text gekonnt mit dem hohen poetischen Ton, während Reinhard Strüven – vielleicht – eine moralische Frage aufwirft.
Wer sich über die Autoren informieren möchte, kann dies durch Klick auf den jeweiligen Namen tun.
Stefanie Golisch
(aus:) Das Andere und ich
Benjamin, diesen freundlichen Menschennamen hatte man einem australischen Beutelwolf, dem letzten seiner Art gegeben, der Mitte der 1930er Jahre in einem Zoo ausgestorben war, im Internet kursiert ein Video, das ihn kurz vor seinem Tod zeigt, unruhig in einem engen Käfig hin- und herlaufend, ich habe es zum ersten Mal in einer Ausstellung über das Artensterben gesehen und seine flackernden Blicke hinter Gitterstäben nicht wieder vergessen können
Der letzte seiner Art, vernünftiger Weise ist es kaum vorstellbar, er habe einen Begriff von seiner Bestimmung gehabt, unvernünftiger Weise kann allerdings kein Zweifel daran bestehen, dass er sehr genau wusste, wie es um ihn stand, in diesem Käfig würde er sein Leben lassen und mit ihm alle australischen Beutelwölfe, sie waren endgültig besiegt, man würde ihn nun zum Begaffen fachgerecht ausstopfen und mit einem Paar künstlicher Augen versehen, das würde von ihm bleiben, nichts würde von ihm bleiben
Nichts würde von ihm bleiben, wie sich das Aussterben in der Gefangenschaft anfühlen muss, das lesen wir in seinen Blicken, die Demütigung, sich nicht verstecken zu können, vor aller Augen sterben zu müssen, es nicht geschafft zu haben die eigene Art zu bewahren, der letzte zu sein und unfrei dazu, eine radikalere Verlassenheit ist kaum vorstellbar, eine größere Verzweiflung, eine tiefere Wut, eine vollkommenere Trostlosigkeit
Post Skriptum, ich werde es mir nicht gestatten, weiter über den australischen Beutelwolf zu spekulieren und werde ihm nichts andichten, das über die nackten Tatsachen hinaus nach Literatur klingt, unter keinen Umständen werde ich ihn mit meinem eigenen Leben in eine Verbindung bringen, die es nicht gibt, Tatsache ist, ich habe keine Ahnung von seinem Leben in dem nackten Käfig, seinen letzten Tagen und Stunden, dem Augenblick seines einsamen Sterbens, nichts weiß ich über das Aussterben, das unvorstellbare Schicksal, der allerletzte seiner Art zu sein
Markus Gottschall
Schönborn
Wir fanden die Brennerei nicht mehr. Keine Rauchsäule stieg aus Ginster und Brennnesseln, die das Gelände unter sich ausmachen. Die Öfen trieben wir dann doch einen Steinwurf entfernt auf. Hier fanden wir die Glutnester ausgekühlt vor, wo wir als Kinder unsere Gesichter im Bleiglas gefärbt hatten. Es kirrte den Glasbrenner nichts. Er zischte: „Schschscht!“ Vielleicht gehörte das zur Arbeit, wenn Gold, Glas und Glut kaum zumutbar nah an die Lippen kamen. Seine blähende Atemarbeit brachte leuchtende Ballons hervor, von denen es Tropfenfunken regnete. Sie einmal laut bersten zu sehen fürchteten wir und wie sehr sehnten wir es oft herbei. Jetzt hatte die Zeit den Ort zerschlagen und machte aus dem Handwerk wieder Zauberei.
Gast im Haus, Gott im Haus
Weihnachten stellen sie ein Gedeck mehr auf den Tisch
falls ein Bettler käme, oder der Herr
oder einer der vielen Märtyrer ihrer Geschichte
was, wenn er klingelte
versuch ueber die echokammer einer genesis – & umgekehrt
es zoegerte, hielt inne, denn es hatte alle zeit der welt, allein schon, weil es gar keine gab – also, es gab weder zeit noch welt. & waere es moeglich gewesen, ihm eine frage zu stellen, haette man es vielleicht fragen duerfen, auf welche art & weise es ueberhaupt zu existieren vermochte, jenseits der existenz. aber nichts war da – vor allem nichts, das in der lage gewesen waere, es zu befragen, blosz totale stille, ja, leere – & es… es war allumfassend & nichtsdestotrotz unvorstellbar komprimiert. es bildete das absolute & zugleich einzige potenzial & ihm war klar, ohne dass es ihm klar war, wuerde es seine numinose stimme das wort sprechen lassen, muesste es auf ewig, mehr & mehr, verloren gehen. & es sprach – sang, schrie, fluesterte et cetera! – via diesen einen vollendet initiierenden moment & loeste sich auf, dadurch & darin: es verschwand. doch, nein, es verschwand nicht spurlos; der prozess des da=seins begann. & jedes schwingend reflektierte fragment seiner klingenden verklingenden metapersona warf zurueck, den klang jedes anderen – schuf resonanzkoerper, botschaft, sender & empfaenger in personalunion –; & es divergierten, sich abstoszend, die wellen, & es loeschten sich gleichlautende im direkten zusammenprall aus, & es konvergierten manche & bildeten neue entitaeten & sie neigten, erneut, der reinen stille zu…
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Meine Schultern sind weit von meinen Ohren entfernt. Ich gehe aufrecht, ich schreite, bin sexy und sehe alles Wichtige. In meiner Tasche Münzen für die Bettler am Stauffacher. Ich helfe Gebrechlichen. Ich schreite, ich bin sexy, ich bin hilfreich. Ich mache Skizzen von meiner Umgebung. Ich merke mir die Wortfetzen, die in meine Ohren geweht werden. Ich schreite, sexy und allsehend und wohltätig und erinnerungsstark, ins Café. Ich begrüße den Barista mit Namen und weiß noch, woher er kommt, frage ihn nach seinem Studium und werde nicht ungeduldig, wenn er die Kasse nicht bedienen kann und der Milchschaum auf dem Kaffee flach ist. Ich umarme eine Freundin und arbeite mit ihr zusammen, unsere Gedanken beflügeln sich. Ich trainiere im Fitnessstudio. Ein schmaler goldener Heiligenschein schwebt über meinem Kopf.
Zuhause nehme ich ihn ab und hänge ihn an die Wand, wo er von selbst leuchtet und Energie spart. Jede Woche bekomme ich einen neuen. Samstags verführe ich einen schmalen dunkelhaarigen Mann mit honigbraunen Augen. Danach bekommt er einen Heiligenschein. Alles leuchtet. Alles wäre perfekt, wenn ich nicht ständig eine Sonnenbrille tragen müsste.
Werner Preuß
Das Lächeln
Wenn der Langstreckenläufer nun immer weiter liefe, getrieben von dem Verlangen, diese wogenden, zustimmenden Gebärden, dieses Lächeln immer wieder zu sehen, und wenn die Abstände dieser möglichen Begegnungen dabei immer größer würden – müsste er dann zuletzt selbst lächeln, um diese langen Zwischenräume, die am Ende vielleicht nur noch ein einziger Zwischenraum wären, überwinden zu können?